Das Fräulein
Roman
Ivo Andric
Originalausgabe erschienen 1945
Paul Zsolnay Verlag Ges.m.b.H., 2023
267 Seiten
ISBN 978-3-552-07341-8


Von einer „alten Jungfer“ ist die Rede, die unbemerkt in ihrer Wohnung verstorben ist. Und die damit in die ewige Vergessenheit gerät. Was ihr Leben ausgemacht hat, weshalb sie zur alten Jungfer geworden ist, in Belgrad und in Sarajevo, in den 1920 oder 30er Jahren, erzählt in der ihm eigenen schönen Sprache Ivo Andric in dem Buch „Das Fräulein“. So eigenbrötlerisch sie auch gewesen sein mag, sie hat, nachdem ihr Vater gestorben ist, mit hoher Disziplin und Konzentration, neben dem Stopfen von Strümpfen, eine besondere Gabe entwickelt. Akribisch genau ist die Buchführung gewesen, mit der sie Vaters „Dubioses seiner Buchführung“ gesichert hat. Eine Herrscherin in ihrem Reich, die rasch gelernt hat, Hab und Gut zusammenzuhalten und zu vermehren. Geiz und Wucher sind ihr Lebenselixier. Ihre dienstbaren Geister werden streng gehalten dabei. Und der große Traum, die erste Million zu erreichen – und sie zu überschreiten, wandert durch ihre Nächte. Serbien – und ihr Glück – wird erschüttert durch den Mord am Thronfolger. Sie und Rafo Konforti wissen auch aus dieser Situation von Krieg und allen Auswirkungen ihre Vorteile zu nutzen, ihn zum geschäftlichen Erfolg zu machen, bar jeden Mitgefühls an menschlichen Schicksalen rund um sie.
Die wenigen Menschen, die sie wahrnimmt und mit denen sie in Kontakt steht, spielen immer nur dann eine Rolle, wenn es um ihre Geschäfte geht, aber niemals um Gefühle.
Die einzige Seele ihres Hauses ist ihre Mutter, die ihr aber ebenso fremd ist. Das Kriegsende fordert seinen Tribut von ihr, die Kriegsgewinnlerin war. Hineingeworfen in eine andere Welt, in einer anderen Stadt, in eine andere Gesellschaft, beginnt sie ein neues Spiel und erliegt dem seltsamen Zauber einer fremden Welt. In ihr spielt Besitz von Geld scheinbar keine Bedeutung mehr und wird verschlungen von Nichtnutzen, Schmarotzern und Betrug. Wo und wie das Ende sie ereilt, ist wie ein lang befürchteter Albtraum… als einsame Tote.
Ivo Andric hat in diesem Roman aus dem Jahr 1944 und wie oft in seinen Werken, eine ganze Welt beschrieben, selbst wenn sie klein, eng und beklemmend nahe ist. —

Text: Birgit Meinhard-Schiebel, Präsidentin der Interessengemeinschaft pflegender Angehöriger

Transparenz: Das Rezensionsexemplar wurde dankenswerterweise vom Verlag zur Verfügung gestellt. Kein Honorar.